HORS DU TEMPS von Olivier Assayas (Berlinale 2024, Wettbewerb)

Vincent Macaigne, Nine D’Urso © Carole Bethuel

Er hat die Stummfilmheldin Irma Vep wiederbelebt und Juliette Binoche und Kirsten Stewart nach Sils Maria gebracht. Und nun hat der französische Filmemacher Olivier Assayas sich selbst und allen anderen Überlebenden der Covid-Isolation ein urkomisches Denkmal gesetzt.

Paul (Vincent Macaigne) kann nicht aufhören, die kleine Pfanne zu schrubben, in der die Erdbeeren auf dem Herd verkohlt sind.

Sein Bruder Etienne (Micha Lescot), der in der gleichen Küche manisch seinen Crêpes-Teig rührt, explodiert, er solle das verdammte Ding doch einfach wegschmeissen.

Micha Lescot, Vincent Macaigne © Carole Bethuel

Ein paar Tage früher hatten sie schon gestritten, weil Paul sich via amazon.com täglich neue Dinge ins Lockdown-Paradies im französischen Dorf bestellt hat. Diese Bestellerei völlig überflüssiger Dinge, das sei doch bloss eine Übersprungshandlung, eine Art Rache für die Isolation, ein Akt des Selbstmitleids und überhaupt erbärmlich.

Micha Lescot, Nora Hamzawi © Carole Bethuel

Was die beiden Brüder da nach Wochen des isolierten Zusammenlebens im Haus ihrer Kindheit veranstalten, das kommt dem Kinopublikum bekannt vor. Die Zeit ohne Ausgang, ohne Läden, Restaurants, Freundesbesuche, Konzerte, Kino … wir haben sie hinter uns und fast schon vergessen.

Und nun sehen wir, dass einer der bekanntesten französischen Autorenfilmer und sein als Rockjournalist nicht viel weniger bekannter Bruder diese Zeit ähnlich erlebt hatten.

Nine D’Urso © Carole Bethuel

Bloss viel attraktiver untergebracht als die meisten von uns, in einem idyllischen Landanwesen, beide mit ihren aktuellen Freundinnen, beide nach einer Scheidung.

Hors du temps – aus der Zeit gefallen präsentiert sich Olivier Assayas mit diesem Film und zieht sich in der Gestalt des grossartigen Vincent Macaigne gehörig durch den Kakao.

Es stellt sich nämlich heraus, dass dieser Filmemacher, der sich panisch vor dem Virus fürchtet, wöchentlich mit seiner Therapeutin eine Zoom-Session im Garten abhält und das Ende des Kinos, das sein Leben war, befürchtet… zugleich auch derjenige ist, der das Ende von Isolation und Rückzug fast genau so fürchtet.

Nine D’Urso, Vincent Macaigne © Carole Bethuel

Ein hochgebildeter Neurotiker mit einem dauertaxierenden Blick auf alles in seiner Umgebung.

Dieser Film hat fast so viele Wörter wie Einzelbilder. Wenn die Menschen im Bild nicht reden, tut es der Autor auf der Kommentarspur, auf der er seine ganze Kindheit und Familienerinnerungen auspackt und ausbreitet, mit einer französischen Eloquenz, die den literarischen Vorbildern der Grande Nation in nichts nachsteht.

Hors du temps ist einer jener französischen Quasselfilme, die man entweder liebt oder hasst.

Wer die Filmografie von Assayas kennt und schätzt, wird sich keine Sekunde langweilen. Wer die realen Personen hinter den von den Schauspielerinnen und Schauspielern verkörperten Figurenkonstellationen noch nicht kennt, hat das eine oder andere Aha-Erlebnis.

Dieser Film ist Bilanz, Satire, Biographie und eine endlose Quelle für Tratsch und Vermutungen.

So wussten wir bisher auch nicht, dass Assayas sich mit der Idee beschäftigt, Kirsten Stewart als portugiesische Nonne zu inszenieren. Aber den Film, den möchten wir natürlich sehen.

Kristen Stewart in Assayas‘ ‚Personal Shopper‘ © filmcoopi

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