Locarno 15: CHANT D’HIVER von Otar Iosseliani (Wettbewerb)

Erinnert an Jacques Tati, an Tintin und an Iosseliani: 'Chant d'hiver'
Erinnert an Jacques Tati, an Tintin und an Iosseliani: ‚Chant d’hiver‘

Mit seinen 81 Jahren darf auch der in Frankreich lebende Georgier Iosseliani sich selber kopieren. Sein jüngster Film ist auch und vor allem ein Echo seiner früheren Arbeiten; der knapp unter der Realismusgrenze angesiedelte Alters-Stil erinnert ein wenig an Jacques Tati und sehr stark an Iosseliani.

Im doppelten Prolog verliert zuerst ein Marquis seinen Kopf (samt der Pfeife im Mund) unter der Guillotine, danach schiessen, töten und plündern Soldaten in einem nicht genauer definierten Krieg. Irritierend ist dabei die absurde Mischung von extremem ausstatterischem Aufwand mit Panzern, Kanonen, brennenden Ruinen, explodierenden Granaten und theatralischem, fast schon pantomimischem Spiel der Schauspieler und Komparsen.

Chant d'hiver 3

Viele der Gesichter tauchen dann im mehr oder weniger gegenwärtigen Paris wieder auf, in ähnlichen Rollen und Funktionen, es wird geklaut und gemauschelt, geliebt und verfolgt. Die Behörden transportieren Clochards ab auf Abfallhalden. Und einer wird von einer Strassenwalze so geplättet, dass ihn die anderen unter einer Tür durchschieben können.

Das alles ist skurril und irgendwie mit unserer historischen Realität verknüpft. Aber nicht zwingend, eher unverbindlich, ein Bilderbuch voller Einfälle und ohne grosse Dringlichkeit.

Chant d'hiver 5

Hat man sich aber erst mal an den Stil gewöhnt, der irgendwie an Hérgé und seine Tintin-Comics erinnert, kann man sich treiben lassen. Da ist der Hausmeister eines grossen Wohnhauses, gespielt vom Marquis der Eingangszene. Der ist elegant und weiterhin irgendwie kultiviert und tauscht nebenbei Waffen gegen antiquarische Bücher. Da ist sein Freund, der in seiner Werkstatt Köpfe für Wachsfiguren formt und zuviel trinkt. Da ist der verarmte Schlossbesitzer, der samt seiner Familie aus der Turmruine, in der er lebt, ausziehen muss.

Und da sind die jungen Frauen und Männer, die in en Strassen gut organisiert auf Rollschuhen und mit Transportvelos den Leuten die Kopfbedeckungen und Handtaschen klauen. Einer von ihnen verliebt sich in eine Violinistin. Die wiederum ist die Tochter des Polizeichefs. Und überhaupt sind alle Figuren irgendwie verbunden, wie in einem Wimmelbild.

Chant d'hiver 4

In einer Wand gibt es eine magische Tür, hinter der sich ein Zaubergarten mit Tieren und einer Fee versteckt. Und Mathieu Amalric baut aus Stein ein Häuschen, das er schliesslich mit den Schuldscheinen seiner Eltern beklebt.

Chant d’hiver ist randvoll mit kulturellen Referenzen, Niedergangsmetaphern, satirischen Elementen und Figuren, die einem durchaus ans Herz wachsen können. Man sitzt im Kino und hat das Gefühl, in einem Album zu blättern, das immer wieder neue Dinge zeigt. Man kann weiterblättern, man kann es aber auch hinlegen und später wieder aufnehmen – so man wieder Lust darauf verspüren sollte.

Regisseur Otar Iosseliani
Regisseur Otar Iosseliani

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