Travis Wilkersons Urgrossvater S.E. Branch hat 1946 in seinem Laden in Alabama den Schwarzen Bill Spann erschossen, mit zwei Schüssen in den Bauch und zweien durch den Hals.
Branch war ein ausgewiesener Rassist, Spanns Tod wurde als «Homicide» (Mord) definiert, aber S.E. Branch wurde nie zur Rechenschaft gezogen.
«Ich kann euch garantieren, das wird nicht eine weitere Geschichte über einen weissen Retter!» versichert der Filmemacher im Vorspann. Eher schon ein weisser Albtraum.
Was Wilkerson mit dem «white saviour» meint, macht er klar, indem er die Geschichte von Harper Lees Buch und dem zugehörigen Film To Kill a Mockingbird mit Gregory Peck rekapituliert: Anwalt Atticus Finch, der einem schwarzen Angeklagten einen fairen Prozess ermöglichen möchte und ihn vor dem Lynchmob zu schützen sucht.
Ganz am Ende seines Dokumentarfilms kommt Wilkerson auf die Geschichte zurück, über die erst kürzlich erfolgte Publikation von Harper Lees Vorgeschichte des Buches, welche die private, nicht so idealisierte Seite des Atticus Finch beschreibe.
Das umreisst Wilkersons Programm für seinen eigenen Film: Rücksichtslose Aufdeckung der eigenen Familiengeschichte gegen alle Widerstände. Ausgangspunkt sind für ihn die Erinnerungen seiner Mutter und einer ihrer Schwestern.
Die dritte Schwester, so erfahren wir später, gehört zum Southern Nationalist Movement, ist längst eine Südstaaten-Rassistin und Aktivistin.
Wilkerson montiert seinen Film als persönliche Recherche-Reise mit Eigenkommentar. Das erinnert zuweilen an Michael Moore, vor allem in seiner programmatischen, bisweilen etwas pathetischen Selbstbezichtigung.
Das beginnt schon im Filmtitel. Did You Wonder Who Fired the Gun? ist eine Frage im Song «William Moore» von Phil Ochs, der die Ermordung des Civil-Rights-Aktivisten thematisiert. Wilkerson fährt im letzten Teil seines Films die Strasse entlang an der William Moore von einem Rassisten erschossen wurde, als er mit seinem Gleichberechtigungs-Brief zu Fuss unterwegs war. Und der Song gibt gleich auch die radikale Anwort auf die Frage: «Did you know that it was you who fired the gun?»
Aber selbst wenn die radikal einsichtige Haltung des Filmemachers auf Dauer etwas ermüdet, lässt sich seine Argumentation kaum widerlegen. Die historischen Fakten, die Wilkerson mit den familiären kombiniert, führen immer wieder zu überraschenden Einsichten.
Etwa zum Hinweis darauf, dass Rosa Parks, lange bevor sie als alte Frau zur Symbolfigur des Widerstands gegen die Segregation wurde, schon als Aktivistin und engagierte Kämpferin gegen rassistisch motivierte sexuelle Gewalt an farbigen Frauen unterwegs war – mit staatlichem Mandat.
Auch einer von Wilkersons Kronzeugen aus der Zeit seines Urgrossvaters, ein anderer lebenslanger Aktivist, erzählt in seinem schier endlosen Erinnerungsstrom fast nebenbei Fakt um Fakt, Detail um Detail aus dem Leben mit dem tiefverwurzelten Rassismus im Süden der USA.
Dazwischen schneidet Wilkerson Texttafeln zum Refrain «say his name» mit den Aufzählungen unzähliger Opfer rassistisch motivierter (Polizei-) Gewalt.
Did You Wonder Who Fired the Gun? ist definitiv kein klassisch ausgewogener Dokumentarfilm. Aber auch nicht die thesengetriebene Aufklärungspropaganda eines Michael Moore. Sondern eher schon eine künstlerische Montage, ein Beispiel für die zeitgenössische Weiterentwicklung des Konzeptes eines politisch motivierten dritten Kinos, wie es immer wieder neu interpretiert wird. Recht eindrücklich und überraschend nachhaltig in diesem Fall.