Der philippinische Regisseur Lav Diaz hat mit dem Spielfilm Ang Babaeng Humayo (The Woman Who Left) den aufregendsten Film am Festival von Venedig präsentiert. Wobei aufregend eigentlich das falsche Wort ist – fast vier Stunden nimmt er sich Zeit, um in langen Szenen, ruhigen Einstellungen und in manchmal sehr dunklem Schwarzweiss die Geschichte von Horacia Somorostro zu erzählen. Es ist das Jahr 1997, als Horacia aus dem Gefängnis entlassen wird. Dreissig Jahre lang war sie unschuldig eingesperrt, wegen eines Mordes, den sie nie begangen hatte – nun endlich hat die richtige Mörderin, ihre beste Freundin Petra, gestanden und sie entlastet.
1997 ist das Jahr, indem Diana und Mutter Theresa starben, es ist das Jahr, in dem sich die Zahl der Entführungen auf den Philippinen verdreifacht und die Situation im Land gefährlich wie schon lang nicht mehr ist.
Das alles hört man ab und zu im Radio, der im Hintergrund läuft – anders als bei früheren Filmen (Melancholia von 2008, From What is Before, 2014) des philippinischen Regisseurs bleiben politische und historische Situation der Philippinen im Hintergrund seines Films. Er konzentriert sich ganz auf die Hauptfigur, die sich aufmacht, sich an dem Mann zu rächen, der diesen Mord angestiftet und dafür gesorgt hatte, dass sie unschuldig eingesperrt worden war.
Für ihre Rache nimmt sie sich Zeit, lässt sich an dem Ort nieder, an dem dieser Mann jetzt lebt, freundet sich langsam mit den einfachen Menschen dort an, immer getrieben vom Gedanken, ihn, jetzt ein reicher Mann, umzubringen.
In der Festivalszene ist der Regisseur Lav Diaz kein Unbekannter, mit seinen Filmen holt er regelmässig Preise, begeistert Kritiker. Dass er im Kino nicht bekannt ist, liegt an der Länge seiner Arbeiten: Acht Stunden dauerte Melancholia, fünfeinhalb From What Is Before. Nicht zuletzt deshalb wurde am Filmfestival Venedig gewitzelt, Lav Diaz habe mit seinem neuesten Werk einen Kurzfilm vorgelegt, der sogar unter vier Stunden lang ist.
Tatsächlich ist The Woman Who Left ein sehr zugänglicher Film, ein Beispiel grosser Erzählkunst. Nicht von ungefähr ist auch die Hauptfigur Horacia, eine ehemalige Lehrerin, eine gute Erzählerin. Während die um ihr Leben Betrogene langsam auf ihre Rache wartet, lernt sie die Gestalten auf der Schattenseite des Lebens kennen: einen Buckligen, der gekochte Gänseeier verkauft, eine verrückte Stadtstreicherin und einen Transvestiten, den sie gesund pflegt, nachdem er fast zu Tode geprügelt wurde. Ihre humane Haltung, die sie diesen Menschen gegenüber zeigt, steht dabei in krassem Gegensatz zum Rachegedanken, der sie antreibt – und tatsächlich rückt dieser langsam in den Hintergrund.
The Woman Who Left ist grosses Erzählkino und erweist einem der grössten Erzähler der Weltliteratur die Ehre: Leo Tolstoi. Dabei ist der Film keine Literaturverfilmung, aber Lav Diaz bezieht sich auf Tolstois Erzählung «Gott sieht die Wahrheit aber sagt sie nie sogleich», auch wenn er, wie er schreibt, sie schon fast vergessen habe, sich nur noch an den Kern der Geschichte erinnere.
The Woman Who Left ist ein Meisterwerk, einer dieser Filme, bei denen man keine Sekunde verpassen mag, minutenlang hinschaut, auch wenn wenig passiert – weil eben doch ganz viel passiert, in den Bildern, in den Szenen, aber auch im eigenen Kopf. Diesem Film ist der Goldene Löwe zu wünschen – und der Darstellerinnenpreis für Charo Santos-Concio gleich dazu.