Nifff 09: ‚Left Bank‘ – ‚Linkeroever‘: Der Teufel und das Teerloch

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Horror aus Belgien? Keine geschmacklosen Witze bitte. Der Film Linkeroever von Pieter Van Hees schafft es zunächst ganz eigenwillig und stimmig, die junge Marie zu zeichnen, eine zweiundzwanzigjährige Frau, deren Sprinter-Karriere durch eine plötzliche Anämie unterbrochen wird, und die sich hals über Kopf in den Gebrauchtwagenhändler und Bogenschützen Bobby verliebt. Um während ihrer sportlichen Zwangspause nicht dauernd mit ihrer Alt-Hippie-Mutter aneinander zu geraten zieht Marie zu Bobby in den Wohnblock im Industrieghetto am linken Ufer. Der Ehrgeiz, die Frustrationen und die Ängste der jungen Frau (grossartig: Eline Kuppens) zeigt Van Hees überaus stimmig, bis hin zu den Details, dem geschiedenen Vater des Mädchens, der heute als Studiobassist arbeitet, aber einst mit Johnny Hallyday tourte: Die erste halbe Stunde des Film erinnert an Ursula Meiers Des épaules solides.

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Nifff 09: Moon mit Sam Rockwell

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Es gibt schon ein paar Filme, in denen Schauspieler gegen sich selber antreten, am stärksten in Erinnerung geblieben ist da wohl David Cronenbergs Dead Ringers, mit Jeremy Irons als Zwillingsbrüderpaar. Aber in Moon von Duncan Jones steht Sam Rockwell sich selber gegenüber, beziehungsweise, seine Figur Sam Bell, ein einsamer Angestellter auf einer industriellen Mondbasis, trifft auf ein Klon seiner selbst. Und muss erst einmal herausfinden, ob er mit sich selber leben kann. Als Eröffnungsfilm für das NIFFF ist die erstaunliche kleine Indie-Produktion aus England perfekt. Mit einem Budget von 5 Millionen Dollar und in nur 33 Drehtagen und mit einem einzigen Darsteller (es gibt noch ein paar Nebendarsteller, die in schwarzweiss auf Bildschirmen auftauchen) hat Science-Fiction-Fan Duncan Jones eines dieser minimalistischen Wunder geschaffen, die aussehen wie eine ganze Welt, und nachklingen wie die besten Rätsel der Kindheit.

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Nyon 09: Cooking History

cookinghistory

Wie man mit Frechheit, Einfallsreichtum und minimalsten Mitteln einen ebenso unterhaltsamen wie nachdenklichen Dokumentarfilm machen kann, hat hier an den Visions du réel in Nyon Peter Kerekes mit Cooking History gezeigt. Er folgt den grossen Konflikten des 20. Jahrhunderts über die Erinnerungen jener, die für die Armeen gekocht haben, den Feldköchen, ihren Gulaschkanonen und Erinnerungen an U-Boot-Kombüsen. Im Zentrum stehen auch bei Kerekes die Veteranen und ihre Erinnerungen, die klassischen Talking Heads eben. Aber er lässt sich nicht einfach in die Kamera reden, sondern er inszeniert sie. Entweder in einer Küche beim Kochen, oder – zum Beispiel – auf der Flucht durch ein Maisfeld, komplett mit verfolgendem Panzer. Er geht aber noch weiter. Wie auf dem Foto oben ersichtlich, hat er den einstigen U-Boot-Smutje mit einem Klapptisch und einem Gasbrenner an den Strand gestellt, kurz vor Eintreffen der Flut. Während der Mann seine panierten Koteletts brät, steigt der Meeresspiegel.

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Nyon 09: Die Frau mit den 5 Elefanten

Swetlana Geier und Enkelin

Die fünf Elefanten sind die fünf grossen Romane von Dostojewski, die Frau ist Swetlana Geier, die gefeierte Übersetzerin, welche dieses Riesenwerk für die deutsche Sprache komplett neu erschlossen hat. Der Basler Filmer Vadim Jendreyko (Bashkim) hat die 85jährige in ihrem Haus in Freiburg besucht und ist schliesslich mit ihr zurück an die Orte ihrer Kindheit gereist, in die Ukraine, nach Kiew. Mit 15 pflegte sie in der Familiendatscha ihren sterbenden Vater, der aus Stalins Gefängnissen als Folteropfer entlassen worden war. Sie lernte Deutsch auf Veranlassung ihrer Mutter, was den beiden Frauen zu Gute kam nach dem Einmarsch der Nazi in Kiew, und ihnen schliesslich half, in Deutschland eine neue Existenz aufzubauen, nachdem Kiew von den Sowjets zurück erobert worden war. Denn „im Land der Mörder meines Mannes“ wollte Swetlanas Mutter nicht bleiben. Vadim Jendreykos Film, der gestern an den Visions du réel in Nyon seine Uraufführung hatte, ist vollständig um die charismatische alte Frau herum aufgebaut.

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Nyon 09: L’encerclement – la démocratie dans les rets du néoliberalisme

l'encerclement Plakat

Nachtrag vom 29. April 2009: Grand prix des Visions du Réel Nyon 2009

Die Umzingelung – Die Demokratie in den Fängen des Neoliberalismus. Was für ein Titel. Und was für ein Film! Visions du réel in Nyon hat das Publikum und die Tradition für solche filmische Parforcetouren. Und so haben wir uns heute 160 Minuten lang von analytischen Köpfen wie Ignacio Ramonet, Noam Chomsky oder Susan George anregen lassen, das moralische und ethische Chaos in unseren eigenen Köpfen eventuell ein wenig neu anzuordnen. In zwei Teilen und zehn Kapiteln lässt der junge Kanadier Richard Brouillette 13 Fachleute, Vor-, Nach und Durchdenker des Kapitalismus zu Wort kommen, eingebetten in die Musik Eric Morins, in einer Konstruktion, welche Jean Perret, der Direktor des Festivals als „théâtre de la parole articulée“ bezeichnet, als Theater des geprochenen Wortes.

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Nyon 09: The Sound of Insects – Record of a Mummy

TheSoundofInsects

Peter Liechti (Hans im Glück) gehört beharrlich zu den eigenwilligsten Schweizer Filmemachern. Seine stets sehr persönlich gehaltenen Filme sind zwar verankert im Dokumentarischen, entwickeln aber meist einen musikalischen Gedankenfluss. The Sound of Insects, der gestern am Dokumentarfilmfestival Visions du réel in Nyon seine Uraufführung hatte, gehört zu Liechti bisher perfektesten Filmen. Mit seinem Stab von zuverlässigen, eben so beharrlichen und im Tüfteln verankerten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern hat er um einen Text des Japaners Shamada Masahiko ein Gesamtkunstwerk errichtet. Im Kern steht das Tagebuch eines Selbstmörders, eines Mannes, der sich in den Wald zurückgezogen hat, um sich dort zu Tode zu hungern.

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Nyon 09: Geburt

Geburt von Haselbeck/Langjahr

Letztes Jahr lief hier in Nyon Constantin Wulffs In die Welt, der danach vielfach ausgezeichnet wurde, von Douglas Wolfsperger gab’s Der lange Weg ans Licht, und jetzt hat Silvia Haselbeck (mit Unterstützung ihres Lebenspartners Erich Langjahr) ebenfalls das Wunder der Geburt dokumentiert. Zunächst einmal ist das tatsächlich der Film einer Frau, während die beiden erwähnten Vorgänger ganz klar Werke von Männern waren, ist Geburt unverkennbar von der weiblichen Perspektive geprägt. Und nun muss ich aufpassen, wie ich weiter formuliere, denn ich bin schon mitten im Minenfeld …

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Nyon 09: Pizza in Auschwitz

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Dokumentarfilme rund um den Holocaust haben meist ihren getragenen Ton und ihr ganz spezielles, unangreifbares Pathos. Pizza in Auschwitz von Moshe Zimerman ist anders. Der weit über 70jährige Danny aus Israel gehört zur zweiten Sorte dewr Holocaust-Überlebenden, zumindest nach der Einteilung der zweiten Generation, der auch seine Tochter und sein Sohn angehören. Die eine Sorte redet nie über die schreckliche Vergangenheit, die zweite hört nie mehr auf damit. Danny hat seine Kinder mit dem Holocaust aufgezogen, Birkenau und Auschwitz gehörten zu ihren Gute-Nacht-Geschichten. Jetzt erfüllt er sich einen Lebenstraum und reist mit seinen beiden Kindern und einem Filmteam zurück nach Polen, in die Vergangenheit, an die Orte seiner Kindheit, ins Ghetto, und schliesslich von Lager zu Lager.

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Nyon 09: Geigen gegen Gangs – El sistema

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Über die völker- und menschenverbindende Kraft der klassischen Musik und der Orchesterarbeit sahen wir einige Dokumentarfilme in den letzten Jahren. Am erfolgreichsten in dem Genre war Rythm is it! von Grube und Lansch, welcher zeigte, wie die Berliner Philharmoniker mit Hilfe eines britischen Ballett-Magiers die Kids von der Strasse in die Hochkultur holten. El sistema von Paul Smacny und Maria Stodtmeier geht zu den Wurzeln der Bewegung, zu José Antonio Abreu, welcher in Venezuela ab 1975 eine Vielzahl von Orchesterschulen gründete. Das grösstenteils staatlich finanzierte System bindet die Kinder frühzeitig in eine Orchestergemeinschaft ein, gibt ihnen ein Gemeinschaftsgefühl, Ziele und Lebensfreude. Und es sorgt dafür, dass die Eltern zu Verbündeten werden im Kampf gegen die Gang-Bildung in den Slums. Der Eröffnungsfilm des diesjährigen Dokumentarfilmfestivals Visions du réel in Nyon hat ein grossartiges Sujet und – mit den vielen leuchtenden Kindergesichtern – eine Art eingebaute Publikumsgarantie.

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