Waitress (Piazza Grande)

Es kommt nicht oft vor, dass ein Spielfilm sozusagen posthum uraufgeführt werden muss. Aber die Drehbuchautorin, Schauspielerin und Regisseurin Adrienne Shelly wurde letztes Jahr in ihrem Büro in New York ermordet, bevor der Film am Sundance Festival seine Uraufführung hatte. Die Geschichte einer Frau, die sich befreit, ist daher ihr Vermächtnis, ein rührendes. Waitress ist ein Musical ohne Gesang, ein Groschenroman in liebevollem Pseudo-Technicolor, eine herzerwärmend altmodisch inszenierte Geschichte mit einer hochmodernen Hauptdarstellerin und einer überraschend zeitgemässen Auflösung. Jenna (eine hinreissende Keri Russell) ist Kellnerin und Wähenbäckerin in einem kleinen Diner. Sie ist verheiratet mit einem schrecklichen Mann, schwanger von ihm, unglücklich und daran, ihre Flucht vorzubereiten, als sie sich Hals über Kopf in einen jungen Arzt verliebt, ihren künftigen Geburtshelfer. Das Figurenarsenal stammt aus den 50er Jahren, erinnert an Fernsehserien, die drei Kellnerinnen mit Herzen aus Gold, der böse Ehemann, der wunderbare Doktor, der grummelige Alte, dem das Diner gehört … und doch gelingt es Shelly, die Sache radikal gegen den Strich zu bürsten. Die Dialoge sind frech und direkt und modern, eher Sex and the City als Fifties, die Moral dagegen ist solide klassisch. Das ergibt einen scheinbar unauflösbaren Kontrast, der immer wieder überrascht. Keri Russell erinnert an Romy Schneider, an die junge Diane Lane, und hat zugleich eine leuchtende Präsenz, die ganz eigen ist. Der Film kommt daher wie eine Kitschgeschichte, er sieht so aus, er benimmt sich so, und ist doch oft erschreckend direkt, zeitgemäss. Ich habe noch nie ein solches Kinoprodukt gesehen, das sich gebärdet wie klassisches Kino, dabei die Frechheit einer modernen US-TV-Serie hat. Vielleicht liegt es an Adrienne Shelly und ihrer vielfältigen Arbeit, vielleicht war es aber auch einfach eine Frage der Zeit, bis die Fernseh-Entwicklung, weg von den doofen Soaps, hin zu „sophisticated urban fare“ ihren Niederschlag im Kino finden würde. Die Avantgarde der Unterhaltung passiert ja tatsächlich längst im Fernsehen. „Waitress“ ist vielleicht ein erster Versuch der Rückeroberung. Schade war es auch Shellys letzter.

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