«Dieses Land ist das Paradies. Solange du draussen bleibst.» Das sagt einer der Männer in Thailand zum Japaner Ozawa (gespielt von Regisseur Tomita selbst). Ozawa war Soldat in der japanischen «Verteidigungsarmee» und hat nach seiner Dienstzeit nie richtig Fuss gefasst im Leben.
Er ist, warum auch immer, einer der wenigen Freunde im Leben von Luck, die eigentlich Ling heisst und wie tausende anderer Frauen vom Land nach Bangkok gekommen ist, um als Prostituierte die Familie Zuhause zu versorgen.
Die erste Einstellung des Films ist eine Referenz an Francis Ford Coppolas Apocalypse Now. Luck steht am nächtlichen Fenster eines Hochhaus-Appartements. Wir sehen ihr Spiegelbild, und sie sagt: «Shit. Bangkok»
Dann wendet sie sich ihrem Kunden zu, einem japanischen Geschäftsmann, der jammert, sie solle ihn doch noch an den Flughafen begleiten.
«Den will ich nicht mehr», erklärt sie später im Taxi am Telefon ihrem Zuhälter, «Der geht mir auf die Nerven». Luck kann sich das leisten. Unter den arbeitenden Frauen in ihrer Umgebung ist sie die Königin, jene mit den reichsten Kunden. Und die reichsten, das sind in der Regel die Japaner, auch wenn sie bei den Thai-Frauen ansonsten einen sehr schlechten Ruf haben: Ungepflegt, arrogant, bösartig, selbst gewalttätig seien sie, die Japaner.
Um so verblüffender denn auch die offensichtlich enge und vertraute Beziehung, welche Luck zu Ozawa pflegt. Als dieser im Auftrag eines anderen Japaners nach Laos reisen soll, um dort neue Business-Gelegenheiten auszukundschaften, nutzt Luck die Gelegenheit und begleitet ihn ein Stück weit zu ihrer eigenen Familie, zu der sie ein kompliziertes Verhältnis hat, vor allem zu ihrer Mutter, einer drogenabhängigen GI-Witwe.
Das Festival von Locarno macht offenbar eine Gewohnheit daraus, Katsuya Tomitas epische, magisch-realistische Fastdokumentarspielfilme als letzten Film im Wettbewerb zu zeigen. Jedenfalls war das schon so im Jahr 2011, als Tomita mit Saudade hier war.
Schon 2011 war ich nach dem Erlebnis des Films überzeugt, der würde wohl den Hauptpreis abräumen – und so war seine Platzierung als letzter Kandidat im Wettbewerb von der Festivaldirektion wohl auch gemeint gewesen. Aber der goldene Leopard ging dann an die Schweiz-Argentinierin Milagros Mumenthaler.
Mumenthaler ist auch dieses Jahr wieder Konkurrentin von Tomita, mit La idea de un lago.
Ob es diesmal für den Preis reichen wird? Verdient hätten es der Film und sein Regisseur. Wie schon mit Saudade ist Tomita auch mit Bangkok Nites jener rare Wurf gelungen, ein lakonischer, un-larmoyanter, zuweilen von feinem Humor durchdrungener Film, der eine knallharte Realität vermittelt. Ohne anzuklagen, ohne an ein Gewissen zu appellieren.
Die Frauen in unserer Familie sind glücklich, bis sie sechzehn Jahre alt sind, erklärt Luck Ozawa in einer schwachen Minute gegen Ende des Films. Die zwei haben sich nie berührt, nie umarmt. Nun waren sie am Strand von Pataya City, haben herumgeplanscht. Ozawa ist eingenickt, aufgewacht und hat Luck, von der er weiss, dass sie nicht schwimmen kann, im Meer draussen gesehen. Er ist rausgeschwommen, hat sie zurückgeholt. Und etwas später scheinen sie Sex zu haben im Bungalow. Bis Luck ihm unvermittelt eine Orfeige gibt und hinausstürmt. Ein paar Stunden vorher hatte sie ihm erklärt, sie sei HIV-positiv.
Dass Luck, wie Tausende andere Mädchen und junge Frauen, keine andere Perspektive hat, als ihre grosse Familie durch Prostitution zu ernähren, weil sie die Älteste ist, und die Attraktivste, das wird gespiegelt über ihren jüngeren Bruder Jimmy. Der kann entweder zum Militär, oder Bettelmönch werden. Die Frauen raten ihm alle zum Mönch.
Katsuya Tomita ergänzt seinen oft dokumentarisch wirkenden Film um ein paar leise magische Momente. So hat Ozawa in Lucks Dorf zwei nächtliche Begegnungen mit einem freundlichen älteren Mann, der ihm etwas kuriose, aber eindeutig gutgemeinte Ratschläge gibt. Als er den Frauen von den Begegnungen erzählt, kreischen sie auf. Ozawa ist offenbar dem bekanntesten Geist des Ortes gleich zweimal begegnet, ohne es zu merken.
Später sieht der Japaner bei einer nächtlichen Rollerfahrt durch den Wald eine Gruppe Soldaten durch den Dschungel rennen und verschwinden. Luck fragt ihn, was er denn sehe. Er gibt keine Antwort. Diesmal sind es wohl seine eigenen Geister.
Und schliesslich erzählt ihm Luck von der Seeschlange im Mekong, von der ihr Vater behauptet hat, die Amerikaner hätten den Vietnam-Krieg verloren, weil sie sie gefangen hätten. Und sie traue sich nicht mehr ins Wasser, seit sie ihr als kleines Mädchen beim Schwimmen begegnet sei. Etwas später, bei einer Bootsfahrt mit ihrer Schwester, sieht sie wieder den silbernen schuppigen Rücken unter der Wasseroberfläche dahingleiten. Und wir sehen sie auch.
Bangkok Nites ist mit seinen knapp über drei Stunden durchgehend kurzweilig und faszinierend, eine Reise in eine fremde Welt und in Lebensweisen, von denen nur zu ahnen ist, wie sie überhaupt zu bewältigen wären. Ein Film, der bleibt, und der wieder gesehen werden möchte.