Der zweite Teil von Wang Bings epischer Dokumentation führt Youth (Spring) weiter, der 2023 in Cannes zu sehen war. Das dokumentarische Prinzip ist das gleiche, für weitere 240 Minuten, mit Beginn im Jahr 2015, in den gleichen Textil-Sweatshops in Xhili.
Und die erste Stunde wirkt auch weitgehend so, als ob es einfach weitergehen würde mit dem Alltag der vor allem sehr jungen Wanderarbeiterinnen und Wanderarbeitern, die aus diversen Provinzen hergekommen sind, alle in den gleichen engen Nähmaschinenräumen arbeiten, gleich darüber in den verschmutzten, heruntergekommenen Betonblöcken wohnen, Zigaretten rauchen und samt und sonders brandmager aussehen.
Nach wie vor ist es zunächst frustrierend, dass Wang Bing sich nicht für die Arbeitsschritte ebim entstehen dieser (vor allem für den chinesischen Binnenmarkt hergestellten) Kleidungsstücke interessiert. Sind wir es doch vom klassischen Autorendokumentarfilm über Arbeit und Handwerk gewohnt, die Faszination der arbeitsteiligen Abläufe vorgeführt zu bekommen.
Bei diesem Film sind wir schon froh, wenn wir erkennen, an was für Hosen, Jacken, Shorts oder Kinderkissen da gerade gearbeitet wird.
Der Film interessiert sich für die Textilstücke so wenig wie die Menschen, welche die vorgeschnittenen Stoffteile zusammennähen.
Stückzahl zählt, das ist Akkordarbeit. Und wer die Overlock-Nähmaschine zu lange belegt, bremst die schnelleren Kolleginnen oder Kollegen aus.
Und da zeichnen sich denn auch die ökonomischen und sozialen Verwerfungen ab, mit denen sich dieser zweite Teil der Langzeitdokumentation beschäftig.
Da ist etwa der Disput eines jungen Arbeiters, der sein «Workbook», das Stückverzeichnis mit den beglaubigten täglichen Fertigungen verloren hat. Der «Boss» weigert sich, ihn auszuzahlen, was beide auf den Polizeiposten führt – ohne Lösung im Disput.
Der nächste Konflikt ist grösser und betrifft die ganze Belegschaft eines anderen Sweatshops, dessen Inhaber abgehauen ist, ohne die Belegschaft auszuzahlen, wohl aufgrund massiver Schulden.
Die Arbeiterschaft versucht, über den Verkauf der Nähmaschinen wenigstens einen Teil des ausstehenden Lohnes hereinzuholen, ohne das über das Arbeitsinspektorat laufen zu lassen. Denn die würden ihnen samt und sonders kleine Beträge für ein Zugticket in die Heimatprovinz auszahlen und den Rest des Geldes für sich behalten. Sagen die erfahrenen Veteranen.
Um alles noch schlimmer zu machen, droht auch gleich der Hausbesitzer, die Arbeiterinnen und Arbeiter auf die Strasse zu stellen, obwohl der Sweatshopbetreiber die Miete für das ganze Jahr vorausbezahlen musste.
Wie schon im ersten Teil zeichnet sich allmählich ein erschreckendes Bild eines kaum regulierten frühindustriellen Kleinkapitalismus ab, in dem die Saisonarbeiter immer wieder betrogen und ausgenutzt werden.
Was dagegen hilft, wissen sie auch: Solidarität. Aber die ist schwer aufrechtzuerhalten. Das zeigt eine weitere grossangelegte Verhandlungsrunde mit einem weiteren Boss über die Stückprämie für die einzelnen Teile. Oder der Disput darüber, wie lange die schnelleren oder fleissigeren unter ihnen noch einen neuen «Batch», also eine weitere Ladung zugeschnittener Stoffe anfordern können, die dann aber auch von allen fertig verarbeitet werden müssen – was Überstunden bis tief in die Nacht bedeutet, oder gar zusätzliche Arbeitstage über Neujahr hinaus.
Hin und wieder wird Wang Bing mit der Kamera direkt angesprochen. Eine der Frauen meint einmal, er solle sie nicht filmen. Und in der genannten Szene mit dem Disput um den übereifrigen Veteranen, dessen Rausschmiss die restliche Belegschaft fordert, meint einer zum Kamerateam auch etwas verschämt: Film das nicht.
Diese Langzeitdokumentation mit anderen Filmen im Wettbewerb eines Festivals zu vergleichen, ist einigermassen absurd. Nur schon darum, weil die formale Kunstfertigkeit in der Präsentation der Verhältnisse sich an nichts messen lässt.