In Luzern traf sich diese Woche die Crème de la crème der Animationsfilmszene zur Lucerne International Animation Academy LIAA. Weil ich mit regulärer Radioarbeit eingedeckt war, habe ich Szene-Stars wie die Brothers Quay oder Priit Pärn aus Talinn verpasst, aber auch etliche der angefressenen Theoretiker und Praktiker aus den Schulen und Studienzentren. Gestern nun habe ich es doch noch ins Bourbaki-Kino geschafft, zu einer etwas handgestrickten Selbst-Präsentation der Animationsabteilung der Hochschule Luzern (die sich mit der Organisation der LIAA ein professionelleres Zeugnis ausgestellt hat als mit dieser Plauderrunde), vor allem aber zu einer nicht ganz klar definierten, dafür um so anregenderen Veranstaltung mit den beiden Animationsfilmprofis Gil Alkabetz (u.a. Potsdam-Babelsberg) und Jerzy Kucia aus Krakau.
Um die specifics of storytelling and dramaturgy in animation sollte sich der Dialog der beiden drehen. Tatsächlich bewegte sich das Ganze dann aber in eine weitaus spannendere Richtung: Was unterscheidet die Rezeption von Animation und von Live Action? Schon die Arbeitsthese von Alkabetz hatte es in sich: Animation funktioniere grundsätzlich metaphorisch, es sei fast unmöglich, mit den Mitteln des Animationsfilms etwas zum Nennwert (oder Schauwert) darzustellen. Was heisst das nun?
Alkabetz hat das am Beispiel eines modernen Klassikers erläutert. Der kurze Animationsfilm Reci Reci Reci (words words words, YouTube) von Michaela Pavlatova zeigt gezeichnete Gäste eines Kaffeehauses. Aus den Mündern der einen kommen farbige Blasen und Gebilde, welche in die Ohren ihrer Gegenüber eindringen, oder zu Boden fallen, oder, im Falle eines besonders saftigen Gerüchtes, als gelber Elefant durch die Luft des Kaffeehauses trampeln.
Hier erschliesst sich der metaphorische Gehalt einem internationalen Publikum, meint Alkabetz, selbst ganz kleine Kinder sind in der Regel im Stand, den Elefanten nicht als „echten“ Elefanten zu begreifen. Umgekehrt, so Alkabetz, wäre es ungleich schwieriger, einem Publikum im animierten Film den Elefanten als echten Elefanten zu verkaufen.
In der Folge des metaphorischen Charakters der Animation funktioniere erfolgreiche Animation denn auch am besten mit unspezifischen Figuren wie „ein Mann“ oder „ein Hund“. Auch dafür brachte Alkabetz ein Beispiel: Father And Daughter von Michael Dudok de Wit (YouTube). Das ist ein wunderbar sentimentaler Kurzfilm, der sich um den Abschied einer Tochter von ihrem verreisenden Vater dreht. Die Situation wird sozusagen archetypisch dargestellt, weder Vater noch Tochter brauchen eine Persönlichkeit, damit der Film funktioniert.
Alkabetz‘ Erläuterungen haben mir schon für sich genommen eingeleuchtet, neu sind sie ja nicht. Vor allem der Umstand, dass gute Animation ohne Worte funktioniert, international verständlich ist, und dass auch kleine Kinder häufig einen Zugang selbst zu recht komplexen Sequenzen finden, deutet darauf hin, dass der Animation ein anderer Code zugrunde liegt als der Live Action des Erzählkinos. Wo sich ein Spielfilm um möglichst spezifische Charakterzeichnung bemühen muss, um psychologisch glaubwürdig daher zu kommen, wird gerade die Individualisierung im Animationsfilm häufig zur Barriere.
Das zeigte sich dann auch an den Filmbeispielen von Jerzy Kucia. Er arbeitet unter anderem mit fast schon dokumentarischen Mitteln und einer Reduktion, welche quasi-fotografische Abbildungen metaphorisch überhöhen und damit Stimmungen und Situationen verdichten.
Nun stellte sich für mich aber wieder einmal die Frage, ob die metaphorische Wirkung der Animation oder die (pseudo-) realistische der Live-Action-Filme erkenntnistheoretisch die komplexere Kulturleistung darstellt. Entwicklungspsychologisch würden wir ja instinktiv live-action als „leichter“ zu begreifen einstufen. Die Abbildung von Realität als Realität zu begreifen erscheint uns natürlich. Schliesslich reagieren Katzen und Hunde auf Katzen und Hunde am Fernseher eher, als auf deren gezeichnete Abbilder. Umgekehrt verblüfft dann aber die Leichtigkeit, mit der auch kleine Kinder die metaphorische Funktion im Animationsfilm entschlüsseln.
Der Schlüssel liegt darin, nicht einfach zwischen Animation und Live-Action zu unterscheiden, sondern zwischen Animation und Fiktion, also zwischen Zeichnung und Erzählung im weitesten Sinne. Stellen Höhlenmalereien wie die Jagdszenen von Altamira gleichzeitig erkennbare, realistische Vorgänge und ihre quasi-magische Bewältigung dar, dann funktionieren sie doch unmittelbar, das heisst, ohne kulturelle Übereinkunft von Maler und Betrachter. Umgekehrt braucht der Spielfilm den unausgesprochenen Pakt zwischen Erzähler und Publikum, jene Übereinkunft, welche Samuel Taylor Coleridge als suspension of disbelief bezeichnet hat, die Bereitwilligkeit des Pulikums, sich auf einen erzählerischen Rahmen einzulassen und innerhalb der filmischen Erzählung die fliegerischen Fähigkeiten von Superman als gegeben hinzunehmen – damit der Film überhaupt etwas bieten kann. Strebte das Medium Spielfilm nicht von jeher nach grösstmöglicher Illusionswirkung? Natürlich nicht. Die Macher und die Konsumenten strebten danach, und sie tun es noch immer. Breitleinwand, Farbfilm, Surroundsound, 3D, das sind lauter Überwältigungstechniken, die uns die bereitwillige suspension of disbelief erleichtern. Beim Animationsfilm aber wäre gerade dieser Vorgang tödlich, denn beim Animationsfilm besteht der Genuss ja gerade im Bewusstsein der Zeichenhaftigkeit, der Magie der animierten Materie. Der Animationsfilm lebt von der Diskrepanz zwischen dem Abgebildeten und dem Dargestellten, von seiner Symbolhaftigkeit. Damit liesse sich nun sogar behaupten, das Schaffen eines funktionierenden Animationsfilms stellt wohl die höhere kulturelle Leistung dar als die Kreation einer annähernd perfekten 3D-Illusion in Filmen wie dem aktuellen Avatar von James Cameron. Beim Konsumieren dagegen verhielte es sich umgekehrt: Die magische Zeichenhaftigkeit, die Symbolkraft metaphorischer Darstellung im Animationsfilm ist zumindest mit weniger intellektuellem oder kulturell antrainiertem Aufwand erfahrbar. Stützen liesse sich diese Behauptung mit der Erfahrung, dass jüngere, medientrainierte Zuschauerinnen und Zuschauer mit den fragmentierten, sprunghaften Erzählkonventionen und den rasenden Schnittfolgen neuer Kinospielfilme viel leichter klar kommen, als Leute über fünfzig, die nur noch selten ins Kino gehen.
Oder, zusammengefasst: Das Schaffen eines funktionierenden Animationsfilms ist eine kulturell hochstehende, komplexe intellektuelle Leistung (auch wenn manche Animatoren sie gewiss instinktiv zu leisten vermögen), seine Konsumation dagegen eine magische, quasi-primitive Erfahrung (was selbstverständlich nichts über die intellektuelle Leistung aussagt, welche die bewusste Analyse der gleichen Erfahrung dann darstellt). Beim durchschnittlichen Unterhaltungsspielfilm verhält es sich umgekehrt. Irgend etwas geht an dieser Konstruktion nicht auf. Oder?
Hmmm – ich werde diese hochinteresante Konstruktion nächste Woche zur Diskussion stellen: Klientel: 2D und 3D Ani Studis sowie Video. Dann wird gepostet! :)
Eine ganz einfache Sequenz, ganz einfach gezeichnet.Dudok de Wit ist hinreissend!Mir sind am Schluss unversehens die Tränen aufgestiegen obwohl ich recht abgebrüht bin. Ob es andern auch so geht? Warum? Weil es gut tut zu wissen, dass Gefühle menschlicher sind als der Intellekt?
dede
@ dede: mir geht es jedesmal so, wenn ich den Film wiedersehe, jedesmal. und ich weiss von anderen, denen das auch so geht, auch jedesmal. Natürlich hat Normand Roger auch seinen Anteil daran (der Musiker).
@ Mick: Ich glaube, man kann die These nicht so stehenlassen. Animation arbeitet nebst der Metaphorisierung auch mit einer extremen Reduktion – und da beginnt die Konsumation auch zu einer extrem hochstehenden Kulturleistung zu werden. Als Beispiel möge da David O’Reillys mehrfach preisgekrönter „Lo-Tech but High-Decipher Film“ „Please Say Something“ (http://www.davidoreilly.com/2009/02/pleasesaysomething) dienen.
@ Mick: Ich bin nicht sicher ob ich diese Kulturleistung ganz erbracht habe. Mein Intellekt reicht nicht aus. Aber berührt hat mich der Film schon. Diesmal allerdings nicht ungewollt und direkt, sondern auf dem Umweg über das Nachdenken. dede