Berlinale 13: UROKI GARMONII – Harmony Lessons – von Emir Baigazin

© Harmony Lessons Film Production

Manchmal, ganz selten, erkennt man ein filmisches Meisterwerk schon an seiner ersten Einstellung. Das ist mir heute früh bei der ersten Vorführung von Harmony Lessons nicht passiert. Da blickt die Kamera im Panoramaformat auf das wogende Gras der kasachischen Steppe. Ein Junge im Anzug tritt abrupt von links ins Bild und schreitet dann ins Grasmeer hinaus.

Ach je, dachte ich. Einer von denen. Wahrscheinlich ist der geliebte Grossvater gestorben und gleich lernen wir den Rest der weiterverzweigten Grossfamilie kennen, die für die Beerdigung angereist ist. Der Junge wollte mit seiner Trauer einen Moment allein sein.

So kann man sich täuschen.

Denn nach dem nächsten Schnitt ist Winter. Und noch ein Schnitt weiter jagt er ein einsames Schaf auf dem verschneiten Hof herum, fängt und fesselt es, und schlachtet es fachgerecht und ohne Blut zu vergiessen, während seine Grossmutter die fertig filetierten Teile ins Schaffell einpackt.

Aslan ist dreizehn Jahre alt, an der Schule ist der Tag der grossen medizinischen Untersuchung, und die anderen spielen ihm einen dermassen demütigenden Streich, dass sein Leben völig aus der Bahn gerät. Fortan übt sich Aslan in selbst erfundenen Exerzitien, tüftelt, foltert Küchenschaben, erweist sich als überaus begabt in Physik und Chemie – und bleibt völlig isoliert an der Schule.

Timur Aidarbekov © Harmony Lessons Film Production
Timur Aidarbekov © Harmony Lessons Film Production

Die Schule ist ein duales System. Streng und der Staatsordnung verpflichtet. Und gleichzeitig im harten Griff eines mafiösen Systems, in dem ältere Schüler die jüngeren terorrisieren und ausnehmen. Von einem der Mittelstufengangster wurde Aslan für Ausgestossen erklärt. Wer nur schon mit ihm redet, dem droht das gleiche Schicksal.

In wunderschön komponierten Tableaus zeigt Baigazin diese doppelbödige Welt, in der sich Aslan bewegt, die himmelschreiende Boshaftigkeit und Rücksichtslosigkeit, die unter den Augen, aber völig unbemerkt von den Erwachsenen sämtliche Kinder im Griff hat – bis Aslan offenbar einen Plan fasst.

© Harmony Lessons Film Production 2

Baigazin zeigt die Vorbereitungen des Jungen, lässt eine Ahnung aufkommen, verblüfft sein Publikum mit einer kurzen, heftigen, grossartigen, unerwarteten Traumsequenz. Und dann mit einem völlig unerwarteten Sprung über das eigentliche Ereignis hinweg.

Was passiert ist, versuchen nun die Behörden und die Schule und die Polizei zu ermitteln. Und dabei kommt ein System zum Tragen, dass sich von jenem Schattensystem an der Schule kaum unterscheidet.

Ich habe schon lange keinen Film mehr gesehen, der dermassen heftig wirkt, ohne dafür Muskeln spielen zu lassen. Horror und ein fast lyrischer Humor liegen da immer ganz dicht unter der Oberfläche, das Lachen ist unvermeidlich und beibt einem immer wieder im Hals stecken. Und die Schlusssequenz, die allerletzte Einstellung ist jetzt schon Teil meiner ganz persönlichen Filmgeschichte – bis morgen wird sie auch zu den starken Kino-Erinnerungen von rund dreitausend Menschen gehören.

Harmony Lessons ist ein Film, der seinem Titel ganz anders gerecht wird, als man erwarten würde. Ein Meisterwerk aus einem Land, in dem man es nicht gesucht hätte. Und mein klarer und eindeutiger Favorit für den goldenen Bären dieser Berlinale.

Regisseur Emir Baigazin
Regisseur Emir Baigazin

Entdecke mehr von Sennhausers Filmblog

Melde dich für ein Abonnement an, um die neuesten Beiträge per E-Mail zu erhalten.

Eine Antwort auf „Berlinale 13: UROKI GARMONII – Harmony Lessons – von Emir Baigazin“

  1. An die Nieren gehend.

    Das Gerechtigkeitsgefühl strapazierend.

    In seiner bildhaften Dichte und den verwendeten Metaphern : faszinierend ! !

    Goldener Bär wäre verdient . . . –

Kommentar verfassen

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..