Venedig 15: Based on a True Story

Johnny Depp (rechts!) in 'Black Mass' © Warner
Johnny Depp (rechts!) in ‚Black Mass‘ © Warner

Noch sind nicht alle Filme im Wettbewerb von Venedig gelaufen, dennoch wird zwischen den Kinovorstellungen schon spekuliert, wem der Goldene Löwe dieses Jahr gebührt. Der internationale Wettbewerb ist dieses Jahr so breit in Thematik, Genres und formaler Ausprägungen wie schon lange nicht mehr. Science Fiction steht neben Neuem Realismus, Groteske neben Biographien, Dokumentation und Fiktion werden vermischt, sogar ein Animationsfilm ist zu sehen. Ziemlich oft aber steht hinter den Filmen ein reales Ereignis.

Es fing schon an mit dem Bergsteigerfilm Everest, der das Festival eröffnete und der die wahre Geschichte einer in der Katastrophe endenden Expedition von 1996 erzählte. „Geschichten, die das Leben schrieb“ erzählen hier am Filmfestival von Venedig noch viele andere Filme. Manchmal relativ direkt nach einer Biographie (mit Abweichungen, die der künstlerischen Freiheit eines Drehbuchautors oder Regisseurs gestattet sind) wie die des ersten transsexuellen Mannes, der sich zur Frau umoperieren liess in The Danish Girl oder die des Bostoner Kriminellen James „Whitey“ Bulger im Gangstermovie mit Johnny Depp Black Mass.

Zwei Filme aber sind in der Kategorie „Based on a True Story“ besonders aufgefallen und werden beide als heisse Kandidaten für den Goldenen Löwen gehandelt. Sie passen formal weder in die Kategorie Spiel- noch Dokumentarfilm. Beide suchen sie sich ein historisches Ereignis und beide machen sie daraus etwas komplett Eigenes, Neues. Und beide stammen sie von altgedienten Regisseuren.

Der israelische Filmemacher Amos Gitai hat eine kunstvolle Collage zum Tag von Rabins Ermordung gebaut. Rabin. The Last Day heisst der Film. Inteviews mit Weggefährten wie Shimon Peres wechseln sich ab mit Archivbildern und nachgespielten Szenen.

'Rabin - The Last Day' von Amos Gitai
‚Rabin – The Last Day‘ von Amos Gitai

Gitai erzählt nicht nur nach, sondern sucht nach Erklärungen für den Mord an einem, der den Frieden schon fast herbeigeführt hatte – und fordert einen neuen Friedensdialog mit seinem Film.

Man muss Gitais Kino mögen, seine „Reeactments“, seine nachgespielten Szenen ‚wie es hätte sein können’ sind mit Absicht überzeichnet, theatralisiert – man könnte sagen, das verleihe ihnen grössere Direktheit und Dringlichkeit. Das kann aber genau das Gegenteil bewirken, man wird als Zuschauerin auf Distanz gehalten, die Dringlichkeit verschwindet hinter der aufgesetzten Theatralität. Dennoch ist Rabin – The Last Day nicht nur ein Film über ein 20 Jahre zurück liegendes Ereignis, sondern durchaus ein Kommentar zur aktuellen Lage, eine deutliche und laute Aufforderung zum politischen Handeln.

'Francofonia' von Aleksander Sokurow
‚Francofonia‘ von Aleksander Sokurow

In vielem ist ihm der russische Wettbewerbsbeitrag Francofonia von Alexander Sokurov ähnlich. Auch er erzählt von historischen Ereignissen und ist gleichzeitig Kommentar zu aktuellen Ereignissen. Auch er kombiniert historische Dokumente mit nachgespielten Szenen, oder Szenen, die er historischen Figuren andichtet. Und dennoch ist dieser Film so ganz anders als Rabin. The Last Day. Sokurov ergründet die Ereignisse rund um den Pariser Louvre während der deutsche Besetzung, lässt den deutschen Fürsten von Metternich, der für den Kulturgüterschutz zuständig war, auf den damaligen Direktor des Louvres treffen, Jacques Jaujard.

Sokurov selber liefert in einem langen Monolog aus dem Off seine Kultur- und Geschichtsphilosophie und zieht Parallelen zu Leningrad resp. Sankt Petersburg, wo die Ermitage und ihre Kunstschätze während des Krieges geplündert und zerstört wurden. Ein recht bildungsbürgerliches Stück Kino ist das, wunderbar kunstvoll gebaut mit einer sehr ausgefeilten Tonspur und grossartigen Aufnahmen von Kunst. Etwas angestaubt könnte man meinen, aber plötzlich merkt man: das Nachdenken über Kulturgüter und ihre Bedeutung für die Menschen ist gerade wieder sehr aktuell im Angesicht der Zerstörungen des IS.

Die Kontext-Radio-Bilanzrunde von heute, aus Venedig, mit Brigitte Häring, Anke Leweke und Peter Claus:

 

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